Man sollte ihn sehr ernst nehmen:
Der jüdische Witz
Carlo Schmid*
Den ersten ›jüdischen‹ Witzen bin ich in Witzblättern
begegnet – in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Da
war fast in jeder Nummer von einem ›Kleinen Kohn‹ die
Rede, der sich entweder sonderbar benahm oder auf
einfache Fragen dümmlich-schlaue Antworten gab.
So
oder so – dieser ›Kleine Kohn‹ war keine respektable
Persönlichkeit, ein Gemisch von Schlaumeier, Dummkopf,
dreistem Schacherer und immer im Verdacht, sich
nicht sehr regelmäßig zu waschen. Wenn von jüdischen
Witzen die Rede war, war ich der Meinung, es handele
sich um Witze über Juden, denn jene, die ich zu lesen
oder zu hören bekommen hatte, konnten unmöglich von
Juden stammen, die sich noch Selbstachtung bewahrt
hatten.
Im Kriege (es war der Erste Weltkrieg) war meine
Einheit eine Weile einer K. u. K.-Division zugeteilt. Gelegentlich
tauchten in der Unterkunft am Sitze des Stabes
Kabarett-Truppen auf, deren Conférenciers – es waren
offensichtlich Juden – Witze erzählten, die sich von
der Art der oben gekennzeichneten unterschieden. Sie
waren alles andere als schmeichelhaft für die Menschen
jüdischen Glaubens (ich hatte damals noch nichts von
einem ›jüdischen Volke‹ gehört; welcher zwanzigjährige
Deutsche wusste damals etwas vom Zionismus?), und
doch spürte ich darin etwas, was mich über die Situationskomik
hinaus berührte: eine Melancholie eigener
Prägung, etwas wie Trauer darüber, dass Anspruch und
Realität sich offenbar nie decken und man, um wenigstens
›im Wort‹ bestehen zu können, darauf angewiesen
ist, Spiegelgefechte mit der Wahrheit zu führen. Dies hat
mich sehr betroffen, und ich unterhielt mich eines Tages
mit meinem Quartierwirt, einem recht weitgereisten
jüdischen Kaufmann des kleinen wolhynischen Ackerstädtchens,
über diese Dinge. Ich habe die Antwort nie
vergessen, die er mir auf meine Fragen gab: »Wir leben
eben in der Zerstreuung, und da ist es schwer, ein Jude
zu sein. Am ehesten geht es noch, wenn wir uns mit
unserem Anspruch, das auserwählte Volk zu sein, fragwürdig
finden und dies auch den Nichtjuden sagen.
Wenn die dann nichts anderes können als darüber zu
lachen, dann weiß unsereiner wieder, warum wir das
auserwählte Volk sind. Aber Sie dürfen raten, Herr
Leutnant, wozu . . .«
Ich habe seitdem anders auf jüdische Witze gehört als
vordem und unterscheiden gelernt, ob ein jüdischerWitz
von außen her in Frage stellt oder von innen her. Nur
diese letzteren sind als jüdische Witze ernst zu nehmen.
Man sollte sie sehr ernst nehmen. In den besten von
ihnen steckt mehr als nur, was man gemeinhin als Volksweisheit
zu bezeichnen pflegt. Sicher, viele dieser Witze
enthalten nicht viel anderes als Situationskomik oder
Spott über menschliche Torheit und Selbsteinschätzung,
wie sie der Volkswitz überall kennt. Solche finden sich
auch in diesem Buch. Aber in manchen dieser jüdischen
Witze steckt etwas Spezifisches, das in Dimensionen
führt, vor denen die Witze anderer Völker haltmachen.
Da steht das Gesetz, streng, peinlich genau in seinen
Vorschriften, das ganze Leben durchdringend wie nur
irgendeines. Kein Buchstabe darf weggenommen werden,
wenn die Welt nicht aus den Fugen gehen soll. Aber
da ist auch das Leben mit seinen Ansprüchen und Notwendigkeiten;
da ist die Schwachheit des Menschen, der
Leben und Gesetz ohne die Hilfe von Misericordien
nicht zusammen zu leben vermöchte. Da kann nichts
anderes helfen als Ironie, die sich in all den kleinen
Verrätereien dem Gesetz gegenüber durchschaut und
indem sie einen enormen Aufwand an Witz – das Wort
hier im mittelalterlichen Sinne verstanden – für nötig
hält, um Gesetz, Leben und sich selber im Wort miteinander
ins reine zu bringen, die Norm recht eigentlich
bestätigt.
Und da gibt es abseits vom ›Gesetz‹ das Wissen darum,
dass das Leben seine Wahrscheinlichkeiten hat, die
man erkennen und für das eigene Verhalten in Regeln
fassen kann und muß. Aber was hilft mir das Wissen um
das Regelhafte, wenn die Natur vergisst, die konkrete
Situation nach der Regel einzurichten? Ist man nicht der
Hereingefallene, wenn man angesichts der allem Lebendigen
innewohnenden Spontaneität das Wahrscheinliche
mit dem Wirklichen gleichsetzt? Sicher: »Hunde, die
bellen, beißen nicht« – aber weiß ich, ob der Hund es
weiß?
Da gibt es den Mann, der sich so in der Logik eingesponnen
hat, dass er vergisst, sich seiner Sinne zu bedienen.
Wo ein Blick genügt hätte, um ihm zu weisen, wo
ein Gegenstand liegt, richtete er ganze babylonische
Türme von Syllogismen auf, die von irgendeinem apriorischen
Axiom ausgehen. Gibt es eine köstlichere Ironie
auf den Glauben an die Allmacht des Denkens als die
Geschichte von dem Rabbi, der die Brille sucht, die er
auf der Nase sitzen hat? Und auf der anderen Seite:
steckt nicht in der Geschichte des Kleinen Schnorrers,
der im Eisenbahnabteil den Namen seines Gegenüber
›ausrechnet‹, bei aller Selbstironie ein mächtiger Stolz
auf die Macht des Geistes, auf sicheren Wegen vom Sinnfälligsten
auf das Abstrakteste, ja sogar das Einmalige
kommen zu können?
Doch da gibt es eben auch den Spott auf den, der glaubt,
immer nur Schlauheiten kombinieren zu müssen – und
der doch im Grunde exkulpiert ist, weil er weiß, dass er
in einer Welt lebt, in der kaum einer einen Tatbestand
schlechthin hinnimmt, so dass man einen Konkurrenten
mit nichts sicherer in die Irre führen kann, als indem
man ihm genau sagt, was man vorhat.
An dieses Wissen um solche Paradoxie reiht sich ein
anderes: dass von einer bestimmten Größenordnung ab
ein Sachverhalt in sein Gegenteil umschlägt, gar nicht
metaphysisch, sondern recht irdisch verstanden: dass
wenn einer einem Bankier eine Million schuldet, dieser
seinen Schuldner in der Hand hat; dass dagegen, wenn
die Schuld zwanzig Millionen beträgt, der Schuldner
den Bankier in der Hand hat . . . Daran hat mir in den
Zwanziger Jahren in Berlin ein großer Bankier den eigentlichen
politischen Kern des Reparationsproblems
deutlich gemacht, das der Versailler Vertrag geschaffen
hatte.
Die Krone aber gebührt den ›Witzen‹, die hinter und
jenseits aller Gesetzhaftigkeit das Heilige aufleuchten
lassen, aus denen man über Glaube und Liebe mehr
erfahren kann als aus ganzen Regalen theologischer Bibliotheken.
»Spricht Gott mit einem Lügner?« – sagt
dieser ›Witz‹ nicht alles über das Phänomen des Glaubens
aus? Und jenes Wort über den Rabbi, von dem es
heißt, er steige am Sabbat zum Himmel auf, und den
man dabei überrascht hat, wie er an diesem heiligen Tage
im Walde Holz für eine Witwe schlug: »Er ist noch
höher gestiegen!« – sagt das nicht alles über die Überwindung
des Gesetzes durch die Liebe?
Wenn ich meine Meinung über den jüdischen Witz in
eine Formel zu kleiden hätte, die einigermaßen in die
Nähe des Wesentlichen treffen könnte, würde ich sagen, dass er immer wieder aufzeigt,
dass gerade in einer am
eindringlichsten mit dem Handwerkszeug der Logik begriffenen
Welt die Gleichungen, die ohne Rest aufgehen,
nicht stimmen können. Der jüdische Witz ist heiter hingenommene
Trauer über die Antinomien und Aporien
des Daseins.
Geleitwort von Carlo Schmid zu Salcia Landmanns Buch
"Jüdische Witze".
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von Salcia Landmann
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